L’ART POUR L’ÊTRE
Heinke Haberland
René Kersting
22.11.2024 – 19.1.2025
HEINKE HABERLAND
Architecture of the Ocean & Pompeian Porcelain
Die seltsame Verwandtschaft zwischen den winzigen Skeletten von Radiolarien (Einzeller der Ozeane) und Kuppelbauten der Gotik und Renaissance inspirieren zu Modellen, die zwischen der Anatomie des Seins und Architektur changieren.
Die Experimente beschäftigen sich zudem mit der Herausforderung, hyperbolische Flächen räumlich zu visualisieren. So bietet Häkeln die Möglichkeit, etwa die extensive Zunahme der Fibonacci-Zahlenfolge dreidimensional darzustellen, die sich als Stülpungen und Auffaltungen des Raumes manifestiert: als Complicatio–Explicatio des Mathematikes Nicolas von Kues, in der alle Dinge von Ewigkeit her eingefaltet seien. Auch Vorstellungen des Physikers Roger Penrose zum Raum-Zeit-Kontinuum werden künstlerisch aufgegriffen. Eines wird klar: Gott würfelt nicht. Gott häkelt.
Doch bei allem intellektuellen Erkenntnisgewinn: Unsere Zivilisation ist grob. Wir sind ignorant, blind und plump geworden. Wir sind eine Katastrophe. Wenn nur die Menschheit sich wieder etwas verfeinern könnte – und wahrnehmen, dass es neben unserer eigenen auch noch ganz andere Wirklichkeiten gibt: die Welten unendlich vieler Lebewesen, die in ganz anderen Sphären direkt über, unter und neben uns unterwegs sind. Ein ganzes Gewebe aus fein schwingenden Lebensformen und Schönheit, in das wir eingetaucht sind, ohne es zu bemerken.
In der Kontemplation dieser Ideen entpuppen sich geringgeschätzte Lebensformen wie Fliegen, Schnaken, Larven als Wunderwerke voller Würde. Hauchzarte Wesen werden in Porzellan gleichsam pompejanisch eingefangen.
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RENÉ KERSTING
Sedimente
Die Abbildung eines Ortes.
Ein Zeitraum gebannt, in Tusche auf Glas. Ein Prozess, elementarer als Fotografie es je sein könnte. Gesteuert durch den Ort an sich. Erdrückende Hitze, klirrende Kälte, erstickender Smog, kristallklare Luft, brennende Sonnenstrahlen und tiefster Schatten. Erdstrahlung und Magnetismus bilden sich, bilden den Ort ab. Eine Abbildung ohne bildhaft zu sein.
Doch was ist es, was einen Ort zu einem emotional wirkenden Raum macht?
Angenommen, ein Ort hätte eine Seele, so ist sie verborgen und dennoch essentiell für das Empfinden eines Ortes. Sie ist spürbar, hat Einfluss auf den Menschen, sein Verhalten und seine Emotion. Sie packt ihn an seinen Urinstinkten, weckt sein Wurzelempfinden.
Wie entsteht eine Seele? Wenn sie sich aus dem Ort an sich bildet, beeinflusst durch natürliche und künstliche Elemente, Geschichte und Geist des Ortes, ist sie dann in ihm selbst gespeichert? Redewendungen wie „Hier waren große Geister am Werke“ oder „Ort des Grauens“ legen nahe, dass der Mensch geistige Spannungen auch Jahrzehnte später noch erfahren kann. Kann sich diese geistige Spannung auf Mensch und Objekt übertragen? Kann sie konserviert, transportiert und erneut freigesetzt werden?
Materie wird zu Geist, Geist zu Materie.
Wenn dem so ist, welchen Einfluss hat die Seele eines Ortes auf materielle Dinge, wo sie doch selbst immateriell ist? Kann sie einen Prozess beeinflussen? Ihn verlangsamen oder beschleunigen? Seine Wirkung verstärken oder abmildern? Oder ist sie es gar, die ihn erst in Gang bringt? Dann wären die Sediment-Arbeiten nicht nur die Abbildung eines Ortes, sondern die Abbildung seiner Seele. Viel mehr noch die Materialwerdung ihrer Selbst.